Musiktradition
Musiktradition, pixabay/Foto illustrativ

Der österreichische Pianist Alfred Brendel ist im Alter von 94 Jahren in London verstorben. Mit ihm endet nicht nur ein Musikerleben, sondern auch eine ganze Tradition des klavieristischen Denkens. Brendel war nicht nur Interpret, sondern auch Lehrer, Autor und Vortragskünstler. Sein Rückzug von der Konzertbühne 2008 bedeutete keinen völligen Abschied von der Musik. Bis zuletzt blieb er in der Musikszene präsent – mit Essays, Gedichten und Vorträgen.

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Herkunft zwischen Krk, Zagreb und Wien

Alfred Brendels biografischer Hintergrund ist ebenso vielschichtig wie seine Musik. Geboren im damaligen Wiesenberg wuchs er auf der Insel Krk auf, ging in Zagreb zur Schule und schloss seine Ausbildung in Wien ab. Diese mitteleuropäische Mischung bezeichnete er selbst als „k.u.k.-Mischung“. Sie prägte sein musikalisches Denken und seine Nähe zu Franz Liszt – ebenfalls schwer geografisch einzuordnen. Beide verband eine Haltung: ein europäischer Blick auf Musik.

Zwischen Gulda, Demus und Badura-Skoda

Brendel war Teil jener berühmten Generation österreichischer Pianisten, die international Maßstäbe setzte. Friedrich Gulda driftete Richtung Jazz, Jörg Demus war Spezialist für historische Instrumente, Paul Badura-Skoda wurde zu einem anerkannten Pädagogen. Brendel stand zwischen ihnen – technisch präzise, stilistisch ausgewogen, nie extrem.

Erst ab dem 40. Lebensjahr fokussierte er sich auf Beethoven, Schubert und Haydn. In früheren Jahren war sein Repertoire breiter. Brendel interpretierte sogar Strawinskys „Petruschka“-Transkriptionen, eines der anspruchsvollsten Werke für Klavier. Frühe Aufnahmen belegen eine beeindruckende Technik und rhythmische Raffinesse.

Beethoven-Zyklen und Haydn-Sonaten

Mit zunehmender Reife verengte sich sein Fokus auf klassische und frühromantische Komponisten. Brendel wollte nicht beeindrucken, sondern verstehen. In Beethoven hörte er Ironie, in Schubert Trauer, in Liszt poetische Tiefe. Haydn und Mozart rückten später in den Mittelpunkt seines Programms, doch ihr Erfolg beim Publikum blieb begrenzt.

Seine Interpretationen unterschieden sich deutlich von denen Glenn Goulds, dessen extreme Tempi und Effekte Brendel ablehnte. Er galt als Bewahrer einer interpretatorischen Mitte – nicht exzentrisch, aber tiefgründig. Während Gould zur Ikone der Intellektuellen wurde, blieb Brendel beim Bildungsbürgertum verankert.

Dichter, Denker, Musiker

Nach dem Rückzug vom Konzertleben entfaltete Brendel seine intellektuelle Seite. Essays, Gedichte und Vorträge wurden zu seiner neuen Bühne. Seine Texte neigten zum Grotesken, zum Absurden – vielleicht als Ausgleich zur Disziplin des Konzertbetriebs.

Heute erinnert man sich nicht nur an Brendels Klavierspiel, sondern auch an seine Rolle als letzter Vertreter einer Generation denkender Musiker. Sein Tod markiert nicht nur das Ende eines Lebens, sondern auch das Verstummen einer Haltung.

Quelle: Berliner Zeitung